Wir leben in einer Kultur, die Selbstoptimierung als heiligen Gral vor sich herträgt. Immer geht alles noch besser, perfekter und effizienter. An der einen oder anderen Stelle wird das schon infrage gestellt. Trotzdem wird es wahlweise mit feinen oder wuchtigen Sprüchen weiterverkauft:
„Du kannst alles erreichen, wenn du nur willst.“
„Verändere dein Mindset, dann ändert sich alles.“
„Finde dein Warum und werde erfolgreich.“
„Werde die beste Version deiner selbst.“
„In 30 Tagen zu mehr Klarheit und Selbstbewusstsein.“
„Erfülle dein volles Potenzial.“
„Manifestiere dein Traumleben.“
Auf jeden Fall musst Du immer an Dir arbeiten, am besten mit viel Liebe.
Diese Selbstoptimierungsvorschläge beruhen auf der Idee, dass das Ich permanent verbessert werden muss, um richtig zu sein – um sozial, wirtschaftlich, gesundheitlich und emotional zu „passen“. Die Haltung dabei ist oft – offen oder unterschwellig – kritisch, korrigierend und funktional. Schwäche wird zwar nicht als Störung benannt, aber unterbewusst als Defizit wahrgenommen.
Selbstoptimierung kann kurzfristig hilfreich sein, aber auf Dauer erschöpfend und entfremdend wirken.
Die Reifung dagegen ist weniger glamourös, dafür echter. Sie stellt keine Versprechen aus, sondern stellt Fragen. Sie verkauft nichts, sondern lädt ein, zuzuhören. Und das braucht Mut in einer Welt, die lieber antwortet als als Stille auszuhalten.
Reifen ist ein innerer Prozess, der oft durch Krisen, Übergänge oder tiefe Selbsterkenntnis ausgelöst wird. Es hat mit Loslassen zu tun – und mit dem Mut, nicht mehr alles kontrollieren zu wollen. Reifen heißt nicht besser werden, sondern ganz du selbst werden.
Dabei ist die Grundhaltung geprägt von Annahme, Akzeptanz, Wohlwollen, Neugier und Geduld. Es ist eine Bewegung von innen nach außen. Das Motiv ist nicht Leistungssteigerung, sondern ein tiefes Verstehen, inneres Wachsen und Integrieren.
Integriert wird, was bisher getrennt war: alte Gefühle, innere Anteile, biografische Brüche und Widersprüche. Nicht um zu optimieren, sondern um vollständiger, verbundener und ruhiger zu werden.
Während Selbstoptimierung möglichst linear, effizient und planbar ablaufen soll, ist das Reifen eher langsam – und geschieht in Wellen. Vermeintliche Schwächen werden als Teile des Ganzen gesehen und integriert.
Aus der Reifung heraus entsteht organisch etwas Neues – eine Bewegung, die sich stimmig anfühlt und mit deinem inneren Empfinden in Einklang steht.
Das Problem mit dem Reifen ist nur: Es kann Angst machen. Denn Reifungsprozesse bedeuten oft, sich von alten Themen, Mustern und Haltungen zu verabschieden – und in einen Übergang zu treten, in dem das Neue noch nicht klar ist. Gefühle von Unsicherheit, Angst und Zweifel gehören dazu.In solchen Übergangsphasen brauchst du keine weiteren To-do-Listen, sondern Erlaubnis. Raum. Zeit.
Genau das verheißt der Sommer: Durchatmen. Abschweifen. Unterbrechen.
Vielleicht geht es in diesem Urlaub nicht ums Wegsein, sondern ums Innehalten.
Nicht darum, dich zu erholen, um endlich wieder zu „funktionieren“, sondern leise zu lauschen:
Was will in dir gerade reifen?
Gerade in diesen vermeintlich leichten Zeiten – im Urlaub, in der Pause, im Rückzug – haben mich früher oft unerwartet unbequeme Gefühle überrascht. Während draußen die Sonne schien, spürte ich innen Schwere, ich war traurig und wusste nicht warum. Ich dachte, etwas stimme nicht mit mir – schließlich sollte doch jetzt alles leicht und entspannt sein.
Dabei war ich in einem Übergangsprozess und Weinen ist ein normaler evolutionär angelegter Verarbeitungsmechanismus, der besonders in Phasen zu Tage tritt, wenn wir nicht mehr alles anspannen und verdrängen – gerne in Auszeiten. Durch Weinen wird emotionale Energie frei gesetzt und steckt nicht mehr im System fest.
Warum wir weinen, haben ich noch mal in diesem Blogartikel beleuchtet.
Übergangsprozesse kenne ich. Früher hielt ich mich in solchen Phasen für depressiv – weil ich erschöpft, verwirrt oder wie gelähmt war. Erst später habe ich verstanden: Ich war mitten in einem inneren Wandel.
Mein Nervensystem war aus dem Dauer-Alarmzustand des Funktionierens gefallen. Es war kein Stillstand – es war die leise, tiefe Bewegung nach innen.
Wenn du spürst, dass du gerade nicht in den nächsten Sprint willst, sondern dich in einer solchen Übergangsphase befindest: Ich begleite genau solche Prozesse.
In Coachings oder Workshops darf Raum entstehen für das, was nicht sofort „machbar“ ist – aber vielleicht umso wesentlicher.